EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Rechtssache C-537/19 – Kommission/Österreich
Bei der Klage der Kommission geht es um die Einstufung eines Vertrags über die Gate 2-Immobilie in Wien als Direktvergabe ohne wettbewerbliches Vergabeverfahren oder Auftragsbekanntmachung. Die Kommission macht geltend, dass Wiener Wohnen als öffentliche Auftraggeberin am 25. Mai 2012 mit einem privaten Unternehmen einen langfristigen Mietvertrag über diese Immobilie geschlossen habe, noch bevor diese errichtet worden sei. Wiener Wohnen habe auf die Gestaltung der Immobilie einen weit über die üblichen Vorgaben des Mieters einer solchen Immobilie hinausgehenden Einfluss genommen. Dieser Vertrag, der nicht unter die Ausnahme in Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 fallen könne, sei als „Bauauftrag“ im Sinne dieser Richtlinie einzustufen.[1]
Wiener Wohnen habe die Ausführungen des Baus der Gate 2-Immobilie darüber hinaus wie ein Bauherr kontrolliert. Ferner wies die Kommission darauf hin, dass die Gate 2-Immobilie ohne den Abschluss des Mietvertrages mit Wiener Wohnen nicht errichtet worden wäre.
Zu diesem Vorhalt hat nunmehr der EuGH in seinem Urteil vom 22.4.2021 ausführlich Stellung genommen:
Vorausgeschickt wird, dass bei einem Vertrag, der zugleich Elemente eines öffentlichen Bauauftrags und Elemente eines Auftrags anderer Art aufweist, ist zur Bestimmung seiner rechtlichen Qualifizierung und der anwendbaren Unionsvorschriften auf seinen Hauptgegenstand abzustellen ist (vgl EuGH, C-213/13). Ziel des Vertrages war die Errichtung eines Bauwerks, das anschließend Wiener Wohnen im Wege eines „Mietvertrags“ zur Verfügung gestellt werden sollte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art 16 lit a der RL 2004/18/EG eine Ausnahme vom sachlichen Anwendungsbereich vorsieht und dass die Auslegung, wonach sich diese Ausnahme auf die Miete nicht vorhandener, dh noch nicht errichteter Gebäude erstrecken kann, von der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt wurde.
Ein öffentlicher AG kann sich jedoch nicht auf die in der RL vorgesehene Ausnahme berufen, wenn der öffentliche AG Maßnahmen ergriffen hat, um die Merkmale der Bauleistung festzulegen oder zumindest entscheidenden Einfluss auf die Planung der Bauleistung zu nehmen. So verhält es sich insbesondere, wenn die vom öffentlichen Auftraggeber verlangten Spezifikationen über die üblichen Vorgaben eines Mieters für eine Immobilie hinausgehen.[2] Hinsichtlich des geplanten Gebäudes lässt sich ein entscheidender Einfluss auf dessen Gestaltung feststellen, wenn nachgewiesen werden kann, dass dieser Einfluss auf die architektonische Struktur dieses Gebäudes wie seine Größe, seine Außenwände und seine tragenden Wände ausgeübt wird. Anforderungen, die die Gebäudeeinteilung betreffen, können nur dann als Beleg für einen entscheidenden Einfluss gesehen werden, wenn sie sich auf Grund ihrer Eigenart oder ihres Umfangs abheben.[3]
Hinsichtlich der von Wiener Wohnen formulierten Spezifikationen ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass die Gate 2-Immobilie als klassisches Bürogebäude konzipiert wurde, ohne dass auf bestimmte Mieterkategorien oder auf besondere Erfordernisse abgestellt würde. Die Bauteile A und B dieser Immobilie folgen einem für Büroimmobilien dieser Größe üblichen Rastersystem, das eine für künftige Mieter passende, möglichst flexible Innenaufteilung gewährleistet. Insoweit ist es üblich, dass ein – privates und öffentliches – Unternehmen, das ein Bürogebäude mieten möchte, bestimmte Wünsche hinsichtlich der Eigenschaften äußert, die der betreffende Standort nach Möglichkeit aufweisen sollte, ganz gleich, ob es sich um ein noch zu errichtendes Gebäude oder um einen Mieterwechsel, anlässlich dessen Auffrischungsarbeiten durchgeführt werden, handelt. Solche Schritte erlauben es nicht, den Mietvertrag in einen Bauauftrag umzudeuten.[4]
Die von Wiener Wohnen gestellten Anforderungen gingen nicht über das hinaus, was der Mieter eines solchen Gebäudes üblicherweise verlangen kann, soweit sie sich auf die Anwendung von Standards bezogen, mit denen Ziele im Hinblick auf die Verbesserung der Energieeffizienz und allgemeiner die Verringerung des ökologischen Fußabdrucks dieses Gebäudes erreicht werden sollten.[5] Auch wenn die Zahl dieser Anforderungen und ihr Detailliertheitsgrad hoch sind, bleibt doch in diesem Zusammenhang das entscheidende Kriterium, ob diese Anforderungen über die üblichen Anforderungen eines Mieters an ein Gebäude wie die Gate 2-Immobilie hinausgehen.[6]
Auch durch die begleitende Kontrolle der Ausführung des Baus hat Wiener Wohnen keinen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Gate 2-Immobilie ausgeübt.
Kommentierung
Aus der gegenständlichen Entscheidung des EuGHs sticht besonders hervor, dass eine konkrete Richtschnur gegeben wird, ab wann durch den öffentlichen Auftraggeber verlangte Anforderungen bzw Spezifikationen an ein zu errichtendes Gebäude als „erheblicher“ Einfluss anzusehen sind und der Vertragsabschluss als vergaberechtlicher Vorgang einer Ausschreibungspflicht unterliegt.
So nimmt der öffentliche Auftraggeber dann entscheidend auf Bauleistungen Einfluss, wenn er Maßnahmen ergriffen hat, um die Merkmale der Bauleistung festzulegen oder zumindest entscheidenden Einfluss auf die Planung der Bauleistung nimmt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn
- die vom Auftraggeber verlangten Besonderheiten über „ein übliches Maß“, das der Mieter üblicherweise verlangen kann, hinausgehen, oder aber
- der öffentliche Auftraggeber erheblichen Einfluss auf die Gestaltung, also die architektonische Struktur des Gebäudes nimmt wie seine Größe, seine Außenwände und seine tragenden Wände.
Von dem Ausnahmetatbestand des Art 16 lit a der RL 2004/18/EG (nunmehr § 9 Abs 1 Z 10 BVergG 2018 bzw Art 10 lit a der RL 2014/24/EU) sind daher auch Mietverträge erfasst, die eine gewisse Anpassung des Bauwerks an die Wünsche des Mieters vorsehen, solange das Gebäude dadurch nicht auf eine bestimmte Mieterkategorie ausgerichtet wird. Auch ist es unerheblich, wenn der Mieter bereits in der ursprünglichen Planung vorgesehene Optionen in Anspruch nimmt.
Der EuGH schafft durch sein Urteil durchaus Klarheit und mehr Rechtssicherheit in dem Bereich, was zulässigerweise zwischen Vermieter und öffentlichem Auftraggeber in einem Mitvertrag vereinbart werden kann, ohne mit dem Vergaberecht in Konflikt zu geraten.
Bei Fragen steht Ihnen unser Vergaberechtsteam sehr gern zur Verfügung!
Katharina Trettnak-Hahnl, Mats Schröder und Claudia Knoll
[1] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 41.
[2] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 50 und 51.
[3] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 53.
[4] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 80 und 81.
[5] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 84.
[6] EuGH-Urteil vom 22.4.2021, Kommission/Österreich, C-537/19, EU:C:2021:319, Rn. 86.