Die Aushöhlung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch mediale Vorverurteilungen

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung ist ein Kernstück des internationalen und auch des österreichischen Rechts.

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung ist ein Kernstück des internationalen und auch des österreichischen Rechts. Er ist in Art 6 Abs 2 EMRK und § 8 StPO verankert und besagt, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt. Leider treten allerdings in der Praxis, gerade im Laufe der letzten Monate und Jahre, vermehrt Fälle auf, in denen vor allem über prominente und/oder politisch exponierte Persönlichkeiten bereits vor einer strafgerichtlichen Verurteilung, häufig sogar noch vor einer Anklage, in den Medien in einer Weise berichtet wird, als wären diese schuldig. Es wird beispielsweise von „Täter:innen“ statt von „mutmaßlichen Täter:innen“ gesprochen und der breiten Bevölkerung dadurch ein irreführendes Bild vermittelt. Dieses Bild lässt sich auch im Falle einer Verfahrenseinstellung oder eines Freispruchs – was in den Medien meist nur in einem kurzen Satz erwähnt wird - nicht einfach beseitigen. Negative mediale Berichterstattung kann für den Betroffenen/die Betroffene, auch wenn er/sie letztlich gar nicht gerichtlich verurteilt wird, gravierende negative berufliche und gesellschaftliche Auswirkungen auch nach Verfahrensbeendigung nach sich ziehen. Schlimmstenfalls können dadurch, vor allem bei prominenten Personen, ganze Existenzen zerstört werden.

Das Problem der medialen Vorverurteilung beginnt bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens. Dieses dauert gerade in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren nicht selten sogar mehrere Jahre. Ein Interesse der Bevölkerung an einer Berichterstattung schon in diesem Stadium ist vor allem, wenn es um Straftaten mit politischem Konnex geht, freilich nicht abzusprechen. Zu beachten ist allerdings, dass das Ermittlungsverfahren gemäß § 12 StPO ausdrücklich nichtöffentlich ist. Der Nichtöffentlichkeit kommt gerade am Beginn des Strafverfahrens besondere Bedeutung zu. Denn in diesem frühen Verfahrensstadium ist die Verdachtslage häufig noch sehr unklar, weshalb auf die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten besonders zu achten ist. Dennoch kommt es nicht selten vor, dass bereits während des Ermittlungsverfahrens Informationen an die Presse gelangen und teilweise sogar Teile des Ermittlungsaktes veröffentlicht werden.

Wenn Medien über an sich geheime Vorverfahrensakten berichten, so setzt das im Regelfall entweder Informationen durch die Betroffenen selbst, die daran eher selten Interesse haben werden, oder “Leaks“ durch Verfolgungsbehörden voraus. Mit so einer Möglichkeit hat der historische Gesetzgeber nicht gerechnet, weil es nach wie vor einen vergleichsweise sehr strengen Straftatbestand gibt, der die Verletzung des Amtsgeheimnisses mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (!) bedroht. Auch hier gilt: die Tatsache, dass solche “Leaks“ im Regelfall nicht nachweisbar sind, weil das Mediengeheimnis diesbezügliche Ermittlungen bei Journalist:innen nicht zulässt, ändert nichts an der Illegalität und theoretischen Strafbarkeit solcher “Leaks“. Das muss angesichts aktueller medialer Praxis in Erinnerung gerufen werden. Journalist:innen haben kein Recht auf Berichterstattung über nicht öffentliche Vorverfahrensakten, sie profitieren nur von der im Regelfall bestehenden praktischen Unmöglichkeit des Nachweises. Aus der faktischen Nicht-Beweisbarkeit folgt aber natürlich nicht die Rechtmäßigkeit. Appelle an das Verantwortungsbewusstsein von Journalist:innen haben sich hinlänglich als nicht zielführend erwiesen. Es braucht daher gesetzliche Maßnahmen wie das Zitierverbot, das sich in Deutschland – entgegen anderslautenden Darstellungen in Österreich – sehr wohl bewährt hat, wenn es darum geht, einen sinnvollen und effektiven Schutz gegen MRK-widrige Vorverurteilungen und Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten zu gewährleisten. Der in Deutschland existente Straftatbestand sanktioniert die Veröffentlichung von Teilen des Ermittlungsaktes vor Erörterung in einer öffentlichen Verhandlung. Eine derartige Regelung existiert in Österreich bedauerlicherweise (noch) nicht in vergleichbarer Form.

Die Veröffentlichung von Aktenteilen ist auch aufgrund einer hierdurch möglichen Beeinflussung von Richter:innen und potenziellen Zeug:innen problematisch. Dies wird durch die Existenz der Bestimmung des § 23 MedienG, der wie folgt lautet, untermauert:

“Wer in einem Medium während eines Hauptverfahrens nach Rechtswirksamkeit der Anklageschrift, im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts oder im bezirksgerichtlichen Verfahren nach Anordnung der Hauptverhandlung, vor dem Urteil erster Instanz den vermutlichen Ausgang des Strafverfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die geeignet ist, den Ausgang des Strafverfahrens zu beeinfllussen, ist vom Gericht mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.“

Diese Regelung des Mediengesetzes stellt den letzten Rest der "Lasserschen Artikel" dar, die auf Josef Lasser, einen Minister der Monarchie, zurückgehen, dem der Kampf gegen mediale Vorverurteilung schon vor 150 Jahren ein besonderes Anliegen war. In der Praxis wird diese Bestimmung – wohl auch wegen der geradezu lächerlichen Strafdrohung – jedoch ignoriert, und sie greift auch zu kurz, weil sie Rechtsmittelverfahren, die bei Einzelrichterentscheidungen auch eine völlig neue Beurteilung der Beweismittel ermöglichen, nicht abdeckt.

Die Zielrichtung dieser alten Bestimmung aus dem Kernbereich des StGB ist klar: der Schutz vor unsachlicher Beeinflussung der Richter:innen, was in Anbetracht der gewaltigen Macht, die Medien heute ausüben können, durchaus nachvollziehbar ist. Denn nicht nur die breite Bevölkerung, sondern auch die Gerichtsbarkeit kann durch mediale Berichterstattung maßgeblich beeinflusst werden. Eine mediale Vorverurteilung bewirkt daher auch und vor allem im Stadium des Hauptverfahrens, dass ein fairer Strafprozess vor unbefangenen Richter:innen nicht mehr gesichert ist.

Ein zusätzliches Problem bergen die in medienwirksamen Verfahren in der Hauptverhandlung in den letzten Jahren verstärkt erfolgten Berichterstattungen via „Live-Ticker“. In dieser Form berichten Journalist:innen während der Verhandlung laufend über das aktuelle Geschehen vor Gericht. Diese Berichterstattung ist häufig sehr subjektiv und selektiv und teilweise mangels ausreichend juristischen Verständnisses auch schlicht unrichtig. Auch hierdurch kann nicht nur der breiten Öffentlichkeit ein falsches Bild vermittelt, sondern theoretisch auch Druck auf die Richter:innen ausgeübt werden.

Mediale Vorverurteilungen sind daher aus gutem Grund medienrechtlich ausdrücklich untersagt. § 7b MedienG besagt, dass einer Person, die einer mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlung verdächtig, aber nicht rechtskräftig verurteilt ist und dennoch in einem Medium als überführt oder schuldig hingestellt oder als Täter dieser strafbaren Handlung und nicht bloß als tatverdächtig bezeichnet wird, gegen den Medieninhaber Anspruch auf eine Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtigung gebührt. Auch durch die Gewährung einer Entschädigung können für die von einer medialen Vorverurteilung betroffene Person die dadurch entstandenen Nachteile in gesellschaftlicher, beruflicher und schlimmstenfalls sogar privater Hinsicht jedoch bedauerlicherweise nicht aufgewogen werden.

Medienrechtlich zur Wehr setzen kann sich eine betroffene Person auch dann, wenn sich eine Kriminal- oder Gerichtsberichterstattung auf irgendwelche mit einer Straftat nicht zusammenhängende Umstände aus ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich bezieht. Hier greift § 7 MedienG, der Anspruch auf eine Entschädigung für die erlittene Kränkung gewährt.

Das Problem der medialen Vorverurteilungen wurde auch bereits auf internationaler Ebene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) thematisiert. Wiewohl der EGMR anerkannte, dass ein Interesse der Öffentlichkeit, über Strafverfahren informiert zu werden, existiert, stellte er auch explizit fest, dass die Enthüllung der Identität eines Verdächtigen vor allem in der frühen Phase eines Strafverfahrens besonders problematisch sein kann. Daher regte der EGMR an, dass die innerstaatlichen Gerichte Maßnahmen ergreifen, um vor einer medialen Vorverurteilung zu schützen und der Unschuldsvermutung Wirksamkeit zu verleihen.

Die durch Art 6 Abs 2 EMRK auch verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung bindet grundsätzlich nur staatliche Organe. Nach der Judikatur des EGMR besteht jedoch unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Verantwortlichkeit des Staates dafür, dass Strafverfahren nicht in einem Klima bereits erfolgter Vorverurteilung durch die Medien und in der Folge durch die Öffentlichkeit stattfinden.

Wenn aus Anlass von Strafverfahren Demonstranten mit Galgen aufmarschieren und damit bewusst Assoziationen zur Lynchjustiz erzeugen, so werden damit Grenzen überschritten, die mit Demonstrations- oder Meinungsfreiheit nicht mehr zu legitimieren sind. Hier wäre es Aufgabe des Staates, im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, an die er gebunden ist, dagegen vorzugehen.

Wie leicht negative (Ur)Instinkte bei Menschen aktiviert werden können, hat uns Wolfgang Ambros mit seinem zeitlos-genialen Lied “Da Hofa“ vor Augen geführt. Dort ging es um einen völlig Unschuldigen, der schlicht unbeliebt und ein idealer Sündenbock war.

Ein Auf- und Ausbau des Schutzes gegen mediale Vorverurteilungen in der österreichischen Rechtsordnung, wie vom EGMR befürwortet, wäre im Lichte der dargelegten massiven negativen Folgen für die Betroffenen daher jedenfalls wünschenswert.

Abschließend ist festzuhalten, dass der Rechtsstaat auch Schuldige und rechtskräftig Verurteilte vor einer unzulässigen Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten, die durch Art 8 EMRK und Art 7 der EU-Grundrechtecharta (“Achtung des Privat- und Familienlebens“) ebenfalls verfassungsrechtlich verankert sind, schützt. Dieser Schutz beginnt schon einfachgesetzlich mit der nach wie vor aufrechten gerichtlichen Strafbarkeit des “Vorwurfs einer schon abgetanen gerichtlich strafbaren Handlung“. § 113 StGB bedroht denjenigen mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen, der “einem anderen in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise eine strafbare Handlung vorwirft, für die die Strafe schon vollzogen oder wenn auch nur bedingt nachgesehen oder nachgelassen oder für die der Ausspruch der Strafe vorläufig aufgeschoben worden ist“. Die Tatsache, dass sich viele Medien – vielleicht auch wegen der geringen Strafdrohung – nicht daran halten, ändert nichts an der Gültigkeit und Verbindlichkeit dieser Strafnorm.

Man kann sich insgesamt des Eindrucks nicht erwehren, dass selbst die vergleichsweise schwach ausgeprägten Regelungen zum Schutz der Grundrechte von Personen, die von Strafverfahren betroffen sind, in der Rechtswirklichkeit - vielleicht auch auf Druck der Medien - einfach nicht mehr ernstgenommen werden, ohne dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sie geändert hätte. Eine solche Entwicklung ist gefährlich, sie trägt in letzter Konsequenz zur Erosion des Rechtsstaates bei. Dem muss man entgegenwirken.

Bei Fragen steht Ihnen das KWR Wirtschaftsstrafrechtsteam gerne zur Verfügung.

Diese Website verwendet Cookies

Damit wir Ihnen während des Aufenthaltes auf unserer Website das bestmögliche Erlebnis bieten können, verwenden wir verschiedene Arten von Cookies. Bitte wählen Sie aus, welche Arten von Cookies Sie zulassen möchten und klicken Sie dann auf "Zustimmen". Mit dem Klick auf "Allen zustimmen" erklären Sie sich mit der Verwendung sämtlicher Cookies einverstanden. Ihre Einwilligung können Sie jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, indem Sie Ihre Einstellungen ändern. Mehr zum Thema Cookies finden Sie unter: Cookie-Policy. Weitere Informationen zum Thema Datenschutz finden Sie unter: Datenschutz.

Impressum

Betriebsnotwendige und
funktionale Cookies
Statistik-Cookies


Weitere Informationen